Königlich schwedische Post
Mit der Gründung der neuen Hauptstadt des Russischen Reiches, St. Petersburg, am 27. Mai 1703 an der Mündung der Newa in die Ostsee machte Zar Peter I. deutlich, dass er den Vormachtanspruch Schwedens im Ostseeraum nicht länger bereit war zu akzeptieren. Vielmehr trachtete er danach, den russischen Machtbereich unmittelbar bis an die Küsten der Ostsee auszudehnen. Dies gelang im Ergebnis des Nordischen Krieges (17011721).
(Bild: Meyers Konversationslexikon (1893-97) / Wikimedia Commons)
Die russischen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland umfassten weitgehend das Staatsgebiet der heutigen Republiken Estland und Lettland. Die russische Ostseeprovinz Estland hingegen umfasste nur den nördlichen Teil des heutigen Estland, während dessen südlicher Teil nicht von Reval (Tallinn), sondern als Teil der Provinz Livland von Riga aus verwaltet wurde. Erst mit der Teilung Livlands entlang der estnisch-lettischen Sprachgrenze entstand 1918 das Staatsgebiet der heutigen Republik Estland.
(Bild: Karte von 1820 / Wikimedia Commons)
(Bild: Karte von 1820 / Wikimedia Commons)
Mit dem 25. November 1710 verfügte der Generalgouverneur Livlands die Wiedereröffnung der Postrouten und -stationen in Livland und Estland. Bis 1712 wurden diese durch Kosaken betrieben, ab 1713 durch die estnische und livländische Ritterschaft, vereinzelt auch durch reichsfreie Bauern. Da diese im Gegenzug für den Unterhalt der Postrouten und -stationen das Recht erhalten hatten, über den Großteil der Einnahmen zu verfügen, entspannen sich über 181 Jahre (1713-1894) ständige Konflikte zwischen den „privaten Anteilseignern“ und der staatlichen russischen (Post-)Verwaltung, die erst 1894 mit der stärkeren Zentralisierung und Russifizierung der Postverwaltung auch in den Ostseeprovinzen endeten (Einrichtung von Postagenturen und -stellen).
Stempel aus Reval
Hurt/Ojaste Nr. 56:1
Die Kennzeichnung von Postsendungen erfolgte zunächst ausschließlich handschriftlich. Erst ab 1796 führte Dorpat (Tartu) den ersten Poststempel ein, gefolgt von Reval (Tallinn) ab 1799. Diese Stempel verwendeten nur die Postämter (in den Kreisstädten).
Stempel aus Dorpat
Hurt/Ojaste Nr. 16:1
Mit der Postreform von 1830 wurde vorgeschrieben, dass in den Poststationen Poststempel und in den Postämtern besondere Ankunftsstempel verwendet werden. Die daraufhin gefertigten Poststempel in Estland sind sehr unterschiedlich. An Postämtern gab es derzeit in Estland nur elf: Das Gouvenements-Postamt in Reval (Tallinn), die Kreispostämter in Arensburg (Kuresaare), Dorpat (Tartu), Fellin (Viljandi), Hapsal (Haapsalu), Pernau (Pärnu), Walk (Valga), Werro (Võru) und Wesenberg (Rakvere) sowie die Postämter in Jewe (Jõhvi) und Narwa (Narva). Diese sogenannten „vorphilatelistischen“, weil bereits vor Ausgabe der ersten Briefmarke Russlands am 1. Januar 1858 verwendeten, Stempel blieben bis etwa 1870 in Gebrauch, um den Abgangs- und Zielort einer Postsendung zu bezeichnen.
Die 1858 eingeführten Briefmarken wurden (zusätzlich) mit einem sogenannten „Punkt-Nummernstempel“ entwertet.
Punkt-Nummernstempel, verwendet 1858 1877 (Hurt/Ojaste Typ 2).
Verwendung: Gouvernements-Postämter: kreisförmig, Kreispostämter: viereckig, Grenzpostämter (kam in Estland nicht vor): oval, Sonstige Postämter: sechseckig, Poststationen: dreieckig.
Ab 1860 fanden aber auch erstmals reichsweit nach einheitlichem Muster hergestellte Datum-Kreisstempel Verwendung:
Mit Ausgabe der ersten Briefmarke in Großbritannien am 6. Mai 1840 beginnt die Philatelie, die Liebe zu Frankaturen in all ihren Erscheinungsformen. Post gab es natürlich schon lange davor, Briefe auf Papier mit Stempeln noch nicht ganz so lang. Einen solchen Brief "ohne Briefmarken" wollen wir uns hier einmal, exemplarisch für eine eingehende Post in der kaiserlich-russischen Zeit, näher betrachten:
Der Briefumschlag (ex Reinhard Heinrich), etwas verkleinert dargestellt, ist ein für damalige Zeiten typischer Faltbrief, erkenntlich an den Faltspuren und dem roten Trockensiegel, mit dem der Brief verschlossen war.
Über seinen Inhalt wissen wir nichts. Vielleicht war es eine Bestellung oder ein Begleitbrief, der parallel zu einer Schiffsladung auf dem Landweg versandt wurde. Das absendende Unternehmen existiert heute nicht mehr. Der Brief wurde ausweislich des handschriftlichen Vermerks am 15. Dezember 1856 mit dem ovalen Absenderstempel „Th. C. Le Gué Rotterdam“ versehen und noch am selben Tag zur Post gegeben, ersichtlich an dem roten Einkreisstempel des Postamtes Rotterdam. Empfänger war das Handelshaus Hans-Dietrich Schmidt in Pernau/Rußland (heute Pärnu, Estland), das von 1741 bis 1940 bestand.
Als Durchgangsstempel fällt zunächst der Stempel "Emmerich Oberhausen 16 12“ auf (ein Teil ist unten sichtbar, der Rest durch die Entfaltung des Briefes nun oben). Dabei handelt es sich um einen preußischen Bahnpoststempel, der den Transport des Briefes mit dem damals modernsten und schnellsten Transportmittel, dem Zug, belegt. Der Brief wurde weiter über Land durch Preußen nach Russland transportiert, was der blaue preußische Vermerk "2/3“ und der braune russische Vermerk "10“ zeigen. Darin erkennen wir die jeweiligen Anteile der Brieftaxe, der Transportgebühr, welche die niederländische, die preußische und die russische Postverwaltung für sich beanspruchten. Doch dazu unten mehr.
Ein weiterer rechteckiger Durchgangsstempel fällt auf, in kyrillischen Buchstaben und auf Russisch: „POLUCHENO 7. DEKAB.“, also „EMPFANGEN 7. DEZB.“. Doch halt!? Postabgang am 15. Dezember in Rotterdam und Posteingang in Riga dann am 7. Dezember? Wie geht das denn? Nun, die damals noch unterschiedlichen Kalender machten es möglich, dass ein Brief "ankam, bevor er abgesandt wurde“: In weiten Teilen Europas wurde bereits seit dem 16. Jahrhundert (1582) der nach Papst Gregor XIII. benannte gregorianische Kalender verwendet, während in Russland noch bis 1918 der nach Julius Caesar benannte julianische Kalender galt (dem 1. Februar folgte damals der 14. Februar 1918.). Im 19. Jahrhundert betrug der Unterschied zwischen den Kalendern 12 Tage, wobei der julianische Kalender dem gregorianischen „hinterher hinkte“. Nach gregorianischem Kalender gelangte der Brief also am (7+12=) 19. Dezember nach Riga.
Bereits am folgenden Tag erreichte er Pernau mit dem Zweikreisstempel „8. Dez.“ dokumentiert; das heißt, dass der Brief tatsächlich von Rotterdam bis Pernau vom 15. bis zum (8+12=) 20. Dezember (im gregorianischen Kalender), also nur 6 Kalendertage benötigte. Das geht heute übrigens auch nicht schneller, trotz Flugpost ...
Das Porto zahlte anders als heute der Empfänger. Der Verrechnungskurs betrug hier 3 Silbergroschen = 10 Kopeken. Für die Route in den Niederlanden wurden 2 Silbergroschen berechnet, die zu 6 ½ Kopeken umgerechnet wurden. Für den Transit durch Preußen waren weitere 3 Silbergroschen zu entrichten. Nochmals 10 Kopeken fielen für den Transportweg in Russland an. Die Herren Schmidt in Pernau hatten also ingesamt 26 ½ Kopeken zu zahlen, wie es der schwarze handschriftliche Vermerk auch ausweist.
Alles in allem ein "sprechender“ Briefumschlag, voll interessanter Informationen, auch ohne Briefmarken. Aber eben kein "vorphilatelistischer“ Brief, sondern ein sogenannter "Portobrief“, bei dem der Adressat das Porto im Nachhinein zu entrichten hatte; im Gegensatz zu einem "Francobrief“, bei dem der Absender das Franco im Vorhinein entrichtete.
Was man allerdings nicht im Bild wiedergeben kann, ist das sinnliche Erleben, ein so altes Stück Papier in den Händen zu halten und die Geschichte dadurch noch viel lebendiger werden zu lassen.
Ein weiteres Beispiel für den Zeitunterschied von 12 Tagen zwischen julianischem und grogorianischem Kalender im 19. Jahrhundert: Russische Ganzsache Michel U 28A aus Reval 17. Sept. 1880 (29.9.) über St. Petersburg 18. Sept. 1880 (Rückseite) nach Helsingfors/Helsinki mit Ankunftstempel ANK 1.10.
Ein besonderes Kapitel bildeten zwischen 1870 und 1918 die Bahnpostämter und ihre Streckenstempel, da diese im Zarenreich nicht der Reichspost unterstanden, sondern als Bahnpostverwaltung von dieser unabhängig organisiert waren. Für Estland war die Bahnpostabteilung in St. Petersburg zuständig.
Diese Ganzsachen-Postkarte (Michel Russland P4) lief am 12. Mai 1879 auf der Strecke von Dorpat (Bahnpostamtsstempel Hurt/Ojaste 2:1) nach Taps (Bahnpost-Streckenstempel Hurt/Ojaste 16:3 für Strecke Nr. 89) nach Hamburg.
Die Karte ist übrigens adressiert an Prof. Dr. Wladimir Köppen (18461940), dem Doyen der deutschen Klimaforschung und damaligen Sektionschef an der Deutschen Seewarte.
Zwischen 1870 und 1904 wurden zunächst die reichsweit bedeutenden Breitspurlinien gebaut und in Betrieb genommen, bevor zwischen 1896 und 1903 die nur regional bedeutsamen Schmalspurlinien in Angriff genommen wurden. Für beide kennzeichnend war, dass sie zunächst weitgehend mit privatem Kapital projektiert, gebaut und betrieben wurden, bevor im weiteren Verlauf zumindest die Breitspurlinien verstaatlicht wurden.
(Bild: Karte von 1881 / Retromap Sergei Tarasov)
In Estland wurden folgende Bahnlinien mit Breitspur (1524 mm Spurweite) für den fahrplanmäßigem Verkehr eröffnet :
1870 Baltischport Reval Gatschina (Paldiski Tallinn Gatshina)
1876 Taps Dorpat (Tapa Tartu)
1899 Dorpat Walk Pleskau (Tartu Valga Pskov)
1904 Keila Hapsal (Keila Haapsalu)
Poststück als Beleg für die Nutzung der Breitspurlinie Taps (Tapa) Dorpat (Tartu): Portofreier Kirchspielbrief vom Pastor zu Ecks (Äksi) nur wenige km nordnordwestlich von Dorpat (Tartu) an den dortigen Pastor zu St. Petri. Streckenstempel vom 12. Mai 1877, Hurt/Ojaste 15:3.
Eröffnung von Schmalspurlinien (750 mm Spurweite) für den fahrplanmäßigem Verkehr in Estland:
1896 Walk Moiseküll Pernau (Valga Mõisaküla Pärnu)
1897 Moiseküll Fellin (Mõisaküla Viljandi)
1901 Fellin Tallinn (Viljandi Tallinn)
1903 Walk Mõniste Stockmannshof (Valga Mõniste Stukmani/Plavinas)
1916 Walk Alt-Schwanenburg (Valga Vecgulbene)
Poststück vom 19. November 1917 nach Laisholm (Laiuse) / Station Lais (Jõgeva), gelaufen auf der Schmalspur-Bahnstrecke von Alt Schwanenburg nach Walk, mit Streckenstempel Hurt/Ojaste 39:1.
Die Strecke liegt südlich von Walk, es musste also umgeladen werden auf die Breitspurlinie Walk Dorpat und dort in Richtung Taps, um zur Station Lais zu kommen. Dafür war die Karte auch 3 Tage unterwegs.
Der hier gezeigte Wertbrief über 43.000 Rubel zeigt die höchste bekannte russische Brieffrankatur in Estland bis 1917: 65,10 Rubel.
Dieser Betrag setzt sich zusammen aus 61 Rubel für die versicherte Summe Bargelds im Brief sowie 1,40 Rubel für den Siegellack und 2,70 Rubel für den eingeschriebenen Brief.
Wert- (Geld-) -brief über 43.000 Rubel aus Jurjev (Dorpat/Tartu) in Livland -4 5 17 nach Riga -5 5 17.
Das Porto wurde entrichtet mit 9 Marken zu 7 Rubel (Mi 56y), 2 Marken zu 1 Rubel (Mi 77Axb) und 1 Marke zu 10 Kopeken (Mi 69IAb).
Der Beginn des 1. Weltkrieges brachte große Veränderungen für das gesamte Baltikum mit sich. Anfangs versuchte die Post aus Sicherheitsgründen, mittels sogenannter "stummer Stempel" den Abgangsort einer Nachricht zu verschleiern.
Das erwies sich aber rasch als wenig erfolgreich, wenn - so wie hier- der Absender in Allenküll (Türi) seinen Wohnort offen darunter schrieb und seinen Brief auch gleich mit "Terviseid Türilt" = "Grüße aus Türi" begann, weshalb der Maßnahme auch keine lange Lebensdauer beschieden war.
Stummer Stempel Türi (Allenküll), Hurt/Ojaste Nr. 3, auf Postkarte vom 31. August 1914 (nach gregorianischem Kalender 13.9.1914) nach Jurjev/Dorpat/Tartu
Auch die Bildseite trug nicht gerade zur Verschleierung bei: die "Papierfabrik Türi, Estland" lässt grüßen...
Das Gebiet des heutigen Estland blieb während des Ersten Weltkrieges relativ lange von unmittelbaren Kriegshandlungen verschont. Erst im Oktober und November 1917 besetzten deutsche Heeres- und Marineverbände die estnischen Ostseeinseln und Ende Februar 1918 weitgehend kampflos das estnische Festland.
Deutsche Besetzung / Ob. Ost
Unabhängige Republik Estland
Sowjetische Besetzung
Deutsche Besetzung / Ostland
Lagerpost / Esten im Exil
Unabhängige Republik Estland
Privatpost in Estland